Liebe Leser!
In der Zeitschrift "Salz & Licht. Magazin der kirchlichen Gemeinschaft der ev.-luth. Brüdergemeinden e.V. unter dem Thema "Das gibt's nur einmal auf der Welt - und überall. Vom Geheimnis christlicher Gemeinschaft veröffentlichte ich (Nr. 2/2023) gerade einen Artikel, den ich auch Ihnen hier weitergeben möchte
Gemeinschaft – oder „Sand im Getriebe“?
Was tun, wenn es bei uns nicht mehr „rund läuft“?
Es ist eine traurige Tatsache: Sehr viele Menschen unter uns leiden unter Einsamkeit. Mutter Teresa traf den Kern, wenn sie sagte: „Einsamkeit ist Aussatz der modernen Gesellschaft“. Auch die entscheidenden kritischen Lebensstationen erlebt der moderne Mensch meist mutterseelenallein. Jeder von uns: Als Mann, als Frau, als Sohn, als Tochter, als Verantwortliche.
„Wie bin ich dahin gekommen, wo ich jetzt bin!?“
Da sitzt in meiner Seelsorgepraxis vor mir ein Mann im besten Alter. Mutig und gekonnt war er jahrelang die steile Karriereleiter hinaufgeklettert, hatte sich dazu als bewusster Christ jahrelang für die Gemeinde ein- gesetzt, während seine Kinder zuhause heranwuchsen. „Morgens ging ich aus dem Haus, abends dann so oft Gemeindeveranstaltungen und lange Besprechungen. An Wochenenden häufig Fortbildung und geschäftlicheKontakte. Und immer, wenn meine Frau Zeit einforder- te, sah ich die Lösung im nächsten Jahr. Ja, - irgend- wann, dann wird es besser... Jetzt sind die Kleinen groß und ich empfinde, als habe ich an ihnen und an meiner Frau vorbei gelebt und fühle mich allein...“.
Dies ist kein Einzelfall. Von Einsamkeitsgefühlen fühlen sich Christen heute genauso betroffen, wie Nichtchristen. Spricht man sie auf ihre Gemeinde an, folgt manchmal nur ein mitleidiges Lächeln.
Dabei benötigt jeder Mensch eine lebendige Gemein- schaft. Dieses Bedürfnis ist uns angeboren, wie das nach Essen, Trinken oder Schlaf. Sämtliche Humanwissen- schaften betonen den Menschen als Beziehungswesen. Es ist interessant, dass auch die Individualpsychologie schon vor etwa hundert Jahren die zwei Strebungen des Menschen akzentuierte, die sich überall, auch unter dem Gerangel der Völker, zeigen:
Das angeborene Streben nach gleichwertiger Gemeinschaft, und das Streben nach Macht. Interessant:
Der bekannte Gehirnforscher Gerald Hüther betont in seinen Vorträgen aus der modernen neurobiologischen Forschung immer wieder: Das Gehirn ist plastisch und nicht, - wie früher gedacht - ein lineares Modell gleich einer „Maschine“, sondern es kommt darauf an, wie man es nutzt. Denn nicht die Anzahl der Nervenzellen, sondern vor allem die Beziehungen schaffen seine Ent- wicklung. Es ist in einer Tour dabei, sich neu zu orga- nisieren, solange wir mit anderen zusammen sind und von ihnen lernen.
Dieses Dazugehörigkeitsstreben in Ebenbürtigkeit ist bei jedem allerdings sofort gepaart mit jenem häufig versteckten und die Gemeinschaft zerstörenden Ver- langen nach Macht. Dann reicht Gleichwertigkeit auf einmal nicht: Man möchte sich „über dem anderen“ wissen. Dies geschieht meist, ohne es sich klarzuma- chen und mit raffiniertesten, allerdings meist unbewus- sten „Techniken“. „Durch Wahrheit zur Lüge“ ist das Motto, denn „oft geschieht dies mit Berufung auf Recht, auf Sitte, auf Freiheit, auf das Wohl des Unterdrückten, im Namen der Kultur“, manchmal sogar verdreht und täuschend mit Berufung darauf, Gott gehorsam zu sein. Erkennen wir dieses Streben nach Macht nicht auch beispielsweise im Handeln jenes neutestamentlichen Zachäus (Lukas 19,1-10), der mit dem Ziel, Geld zu scheffeln, mit den Römern kollaborierte und sich so von seinen Landsleuten ausgrenzte? Oder war es nicht auch das immer verhängnisvolle Vergleichen jenes alttesta- mentlichen Elia mit seinen Vätern, weil er „besser“ sein wollte als sie (1. Könige 19,4)?
Es scheint, als sei dieses teuflische Streben Adams und Evas allgegenwärtig. Es steckt überall tief in jedem von uns: Wir wollen „sein wie Gott“ (1. Mose 3,5), Beach- tung finden, groß sein, etwas Besonderes, vor allen Din- gen aber mehr gelten. Nichts aber zerstört die Gemein- schaft mehr, als über dem anderen stehen zu wollen, ihn oder sie zu erniedrigen, zu entwerten, abhängig zu machen, „runter zu holen“. Der Beispiele ist kein Ende. Alle Probleme dieser Welt, alle Kriege und grauenvolle Taten haben hier ihren Ursprung.
Andererseits: Nichts ist nachweislich gesünder für die Seele als ein gutes Dazugehörigkeitsgefühl, ein Gemeinschaftsgefühl in Gleichwertigkeit. Gleichwertigkeit meint ein Leben in der Überzeugung: Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, der besser oder schlechter wäre als ich. In Gottes Schöpfung gibt es nur ein „an- ders“, eine erstaunliche Vielfalt. Jedes wertende Ver- gleichen in „gut“ und „schlecht“ ist lieblos und zerstörerisch und steht allenfalls Gott zu.
Im Blick auf die seelische Gesundheit können wir mit Sicherheit so weit gehen festzustellen: Das Gemeinschaftsgefühl ist wie ein Seismograf, ein Gradmesser unserer seelischen Gesundheit. Denn auch jede Erkran- kung der Seele hat es tatsächlich genau besehen mit einem gestörten Gemeinschaftsgefühl zu tun: Mit drei gestörten Beziehungsachsen: Der Achse zu Gott, der zu dem Anderen und schließlich auch der zu mir selbst. Wer sich also zugehörig, integriert und nicht ausge- schlossen sieht, wer von diesem tiefen Grundwissen überzeugt ist und nicht ständig an sich selbst zweifelt, wer andere liebend ermutigen will in ihrem Selbstwert- gefühl und sie integriert, der lebt seelisch kraftvoll und gesund.
Wir tun folglich gut daran, bei unserer eigenen Seelenhygiene genau darauf zu achten, was die Bibel uns längst schon vor der modernen Psychologie lehrte: Die Mühe um eine gute liebende Beziehung zu Gott, zueinander und zum eigenen Selbst. Zerbrochene Be- ziehungen dagegen, Trennung, Hass und Feindschaft gegeneinander und gegen sich selbst (Markus 12,31), werden stets als Folge der Sünde analysiert.
Ist es nicht erstaunlich, dass die ersten Christen (Hebräer 10,25) aufgerufen werden, sich unter dem Druck der Christenverfolgung nicht aus dem Gemeindeleben zurückzuziehen und zu vereinzeln?
„Lasst uns [...] nicht verlassen unsere Versammlun- gen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht“.
Wäre es denn für sie nicht viel besser gewesen, bei dem tödlichen Risiko entdeckt zu werden, sich nicht als Christ zu zeigen und sich von der Gemeinde fernzuhalten? Nein, das Christentum ist keine Kultreligion, sondern eine Gemeinschaftsreligion. Christen haben deshalb immer versucht, sich zu suchen, selbst unter schlimmsten Verhältnissen, und tun dies bis heute.
Die ersten Jünger haben in der Gemeinschaft ihre Zwei- fel an der Auferstehung Jesu überwunden. Dort ist Jesus ihnen begegnet und hat sie getröstet und gestärkt. Martin Luther sprach von dem „extra nos“ und erklär- te, dass der Glaube uns „von außen“, also von jemand anderem, immer wieder zugesprochen werden muss. Darauf sind wir angewiesen.
Dabei werde ich an jenes bekannte Beispiel erinnert, das ich gerne bei Andachten an den Lagerfeuern auf Jungscharferienlagern erzählt habe: Nimm ein bren- nendes Holzscheit aus dem Feuer und lege es zur Seite. Du wirst beobachten: Es brennt noch eine Weile.
Dann wird die Flamme immer kleiner, bis schließlich nur noch ein rauchendes Stück Holz übrigbleibt. Sobald du es aber wieder in das Feuer legst, brennt
es bald wieder lichterloh zusammen mit dem anderen Holz. Was ist aber nun zu tun, wenn eine Gemeinde droht auseinander zu brechen, wenn sie irgendwann nur noch aus einzelnen „rauchenden Holzscheiten“ besteht? Was, wenn ich ein solches bin?
Einige Impulse dazu möchte ich weitergeben:
1. „Buße tun“.
Die Frage jenes eingangs genannten ratsuchenden Vaters: „Wie bin ich dahin gekommen, wo ich jetzt bin!?“ war entscheidend. Sie führte ihn dahin, sein Leben vor Gott zu reflektieren und die Weichen seines Lebens, Denkens (Römer 12,2) und Empfindens wieder ganz neu zu justieren. Die Bibel nennt diese Neuausrichtung „Buße“ tun. Eine Umkehr, die für jeden Christen nor- mal sein soll. Martin Luther sprach von dieser „Buße“ bekanntlich als von einem „fröhlichen Geschäft“!
2. Integriere dich selbst, sei Mitspieler!
Beobachte dich in deinem Reden: Sprichst du von „der“ Gemeinde oder von „deiner“ Gemeinde? Ist dein Reden über die Brüder und Schwestern negativ, ärgerlich, iro- nisch oder sarkastisch? Viele Eltern wundern sich, dass ihre Kinder in der Gemeinde keine Heimat gefunden haben. Häufig lag hier der Grund.
3. Sei selbst Vorbild!
Ein positives Gemeinschaftsgefühl wird durch mein Vor- bild entscheidend gefördert. Wenn Gott Umkehr möchte, fängt er immer bei mir selbst an. Dies geschieht, indem ich es selbst meide, andere zu bewerten bzw. mich über sie zu stellen. Jede noch so eigenartige Art von Menschen ist von Gott geschaffen und wertgeschätzt.
4. Praktiziere Gleichwertigkeit!
Der Teufel ist der Vater der Lüge. Er „träufelt uns ein“ richtiger, besser, wertvoller zu sein. Vergleichendes Den- ken ist die Wurzelsünde und zerstört jede Gemeinschaft. Dadurch, dass ich mich selbst positiver oder wichtiger nehme als die anderen, zerstöre ich Beziehungen.
5. Beuge allem Machtstreben vor!
Irgendwo hörte ich den witzigen vielsagenden Spruch: „Was ist Gemeinschaft? Der eine ist gemein und der andere schafft!“ In der Gemeinde soll es gerade nicht so sein. Gemeinschaftsleben wird gefördert, wenn einem „Machtstreben“ entgegengewirkt wird. Gerade dort, wo die Aufgaben von einzelnen zu wichtig genommen werden, sollten wir aufpassen: Da werden Mitglieder nicht nur überlastet - manch einer sonnt sich sogar in seiner Überlastung. Obwohl er klagt, genießt er eigent- lich doch unbewusst seine Wichtigkeit. Das hat leicht zur Folge, dass andere sich zurückziehen, sich nicht in Aufgaben einüben können, kein „Trainingsfeld“ haben. Gemeindeaufgaben gut zu verteilen, selbst wenn die Aufgaben nicht so perfekt gemacht werden können, - darauf sollten wir besonders achtgeben.
6. Kleine gesunde Zellen bilden den ganzen Leib.
Viele gesunde Zellen machen einen gesunden Körper aus und bilden auch eine gesunde Gemeinde: Zweier- Gebetszellen, die sich regelmäßig zum Gebet treffen oder auch telefonieren, eine „Gebetskette“, die sich regelmäßig über aktuelle Gebetsanliegen informiert, Hauskreistreffen, gegenseitige Besuche und Einladun- gen, dabei vielleicht auch ein „deklarierter Ehe- bzw. Familienabend“, an dem zugunsten der Ehe- und Fami- lienbeziehung keine Gemeindeveranstaltungen ange- setzt werden.
Der Mensch als soziales Wesen ist auf Gemein- schaft angewiesen. Unser Gemeinschaftsgefühl
ist der Gradmesser unserer psychischen Stabilität. Die Bibel hat längst an vielen Stellen deutlich den Hinweis gegeben, Gemeinschaft zu pflegen. Dies spiegelt sich auch in den Beziehungen im Ge- meindeleben wieder. Der Christ ist Glied an diesem Leib Jesu, wie Paulus es in 1. Korinther 12,12ff beschreibt. Das bedeutet auch Konflikte im Sinn Jesu auszuhalten und auszutragen, Frieden zu stiften, auch schwierige Zeiten durchzustehen und sich um ein gutes Miteinander zu bemühen, so dass einer dem anderen immer mehr zum vertrauten Menschen wird und alle sich gegenseitig ermutigen und stützen.
DR. MICHAEL HÜBNER
Psychotherapeut, Eheberater, Coach, Kommunikationstrainer